Online-Business Bewertung: Die entscheidende Rolle oft unterschätzter Faktoren
Einleitung
Die Bewertung eines Online-Business ist weitaus komplexer als es auf den ersten Blick erscheint. Zwar spielen "harte" Kennzahlen wie Umsatz, Gewinn und Wachstumsraten nach wie vor eine zentrale Rolle, für sich allein betrachtet greifen sie aber zu kurz. Um den realistischen Marktwert eines digitalen Geschäftsmodells zu ermitteln, gilt es eine ganze Reihe zusätzlicher Faktoren zu berücksichtigen - die in der Praxis leider allzu oft stiefmütterlich behandelt werden.
Doch egal ob Sie als Unternehmer Ihr Business verkaufen möchten, auf der Suche nach Investoren sind oder einfach nur eine strategische Standortbestimmung vornehmen wollen: Ohne eine sorgfältige Analyse der entscheidenden "weichen" Faktoren wird jede Bewertung unvollständig und potenziell irreführend bleiben. Genau hier setzt dieser Beitrag an, in dem wir oft unterschätzte Aspekte beleuchten und anhand konkreter Beispiele aus der Praxis zeigen, wie sie sich auf die Unternehmensbewertung auswirken.
Faktor 1: Traffic-Qualität und Skalierbarkeit
Natürlich liefert der schiere Traffic-Umfang einen ersten Anhaltspunkt für die Reichweite und Popularität eines Online-Angebots. Wer 100.000 Unique Visits pro Monat generiert, scheint zunächst besser aufgestellt zu sein als ein Wettbewerber mit nur einem Zehntel der Zugriffe.
Doch Quantität ist eben nicht alles. Mindestens ebenso wichtig für die Bewertung sind Herkunft und Qualität der Besucher:
- Stammt ein Großteil des Traffics von einer einzigen Quelle wie z.B. Google? Dann wäre das Business extrem abhängig von Algorithmus-Updates und entsprechend risikobehaftet.
- Generiert die Website vor allem Zufalls-Traffic über "Longtail"-Keywords, der kaum monetarisierbar ist? Oder werden die Nutzer durch zielgerichtete Kampagnen und Suchbegriffe angesprochen?
- Wie hoch ist die Verweildauer, Klicktiefe und Absprungrate? Bleiben Besucher lange auf der Seite und konsumieren mehrere Inhalte - oder verlassen sie sie nach wenigen Sekunden wieder?
Christopher Heckel (CTO viaductus) weiß um die Tücken der Traffic-Bewertung: "Wir hatten den Fall eines Online-Shops für Fotografie-Bedarf, der mit gigantischen Besucherzahlen glänzte. Auf den zweiten Blick zeigte sich dann, dass zwei Drittel des Traffics von einem einzigen, extrem populärem Blog-Artikel zum Thema "Urlaubsfotos" stammten - die Conversion-Rate war hier praktisch Null. Nur etwa 5% der Besucher kamen über kommerzielle Suchbegriffe wie "Fotorucksack kaufen". Bereinigt um den Blog-Traffic war der Shop also weit weniger attraktiv als es die nackten Visit-Zahlen suggerierten."
Aufbauend auf der Traffic-Analyse muss zudem die Skalierbarkeit des Geschäftsmodells bewertet werden: Lässt sich der Traffic (und damit der Umsatz) problemlos ausbauen, z.B. durch verstärkte SEA-Aktivitäten? Oder bewegt man sich bereits in einem eng limitierten Markt mit geringem zusätzlichen Potenzial? Tools wie der Google Keyword Planner oder SEMrush helfen dabei, das noch unerschlossene Such-Volumen in der jeweiligen Branche abzuschätzen.
Faktor 2: Kundenstruktur und Rentabilität
Neben dem Traffic sind Zusammensetzung und Wert des Kundenstamms entscheidende Größen in der Bewertung eines Online-Business. Hier gilt es zunächst, die wichtigsten Kundengruppen und ihre jeweiligen Anteile am Umsatz zu identifizieren:
- Gibt es eine breite Streuung mit vielen kleinen Bestellungen? Oder generieren einige wenige Großkunden einen überproportionalen Anteil der Erlöse - was ein erhebliches Klumpenrisiko bedeuten würde?
- Handelt es sich primär um Einmal-Käufer (z.B. bei reinen Trendprodukten) oder gibt es einen hohen Anteil an Stammkunden mit wiederkehrenden Bestellungen (ideal bei Verbrauchsgütern)?
- Wie hoch ist die Fluktuation, wie viele Neukunden kommen laufend dazu?
Die Ermittlung der durchschnittlichen Rentabilität pro Kunde und Bestellung ist der nächste Schritt. Dazu werden neben dem Warenkorbwert auch Akquise-Kosten, Retourenquoten, Service-Aufwände etc. herangezogen:
- Decken die Erlöse pro Kunde wenigstens die variablen Kosten für Produktion und Fulfillment?
- Über wie viele Transaktionen amortisieren sich die Werbeausgaben für einen Neukunden (Customer Lifetime Value)?
- Wie viel bleibt - bei sehr grober Näherung - nach Abzug aller Vertriebs- und Verwaltungskosten als Rohertrag pro Bestellung übrig?
E-Commerce-Experte Vanessa Aberle erläutert: "Zur Bewertung der Profitabilität segmentieren wir den Kundenstamm oft in Kohorten nach Einstiegsdatum und betrachten dann die durchschnittlichen Erlöse und Kosten dieser Gruppe über 12, 24 oder sogar 36 Monate. So sehen wir, ob ein Kunde dem Shop langfristig Gewinn bringt - oder ob er womöglich durch exzessive Retouren sogar Geld kostet. Außerdem zeigt die zeitliche Entwicklung, ob die Rentabilität der Kunden steigt, etwa weil die Akquise mit der Zeit günstiger wird."
Faktor 3: Marktpositionierung und Wettbewerbsvorteile
Die Attraktivität eines Business hängt ganz wesentlich davon ab, wie es im Wettbewerbsumfeld positioniert ist und ob es sich durch Alleinstellungsmerkmale von der Konkurrenz differenzieren kann.
- Bedient das Unternehmen eine klar definierte, profitable Nische oder führt es ein Produkt mit hohem "Wiedererkennungswert"? Das wäre positiv zu werten.
- Liegt dagegen ein generisches Angebot mit hoher Vergleichbarkeit vor, bei dem sich die Mitbewerber einen ruinösen Preiswettbewerb liefern? Das mindert Margen und Unternehmenswert erheblich.
- Gibt es Eigenschaften, die das Business gegenüber der Konkurrenz einzigartig machen - z.B. ein starker Markenname, ein breites Sortiment, ein besonderes Einkaufserlebnis, ein komfortabler Bestell- und Bezahlprozess oder ausgezeichneter Kundenservice?
- Wie leicht sind die Produkte und Services des Unternehmens durch Wettbewerber zu kopieren? Hier spielen Aspekte wie Patentschutz, Exklusivverträge mit Lieferanten oder der Aufbau komplexer, schwer imitierbarer Prozesse (z.B. für Same-Day-Delivery) eine Rolle.
"Für die strategische Bewertung eines E-Commerce-Players ist auch ein Blick auf die gesamte Customer Journey unverzichtbar", weiß Aberle. "Wo liegen die Stärken und Schwächen gegenüber dem Wettbewerb? An welcher Stelle gibt es Verbesserungspotenzial, um die Marktposition auszubauen? Das kann die Produktpräsentation sein, die Nutzerführung, der Check-out-Prozess, Lieferoptionen, Kundenservice... Systematische Tests und Benchmarks, aber auch Nutzerbefragungen bringen hier oft wertvolle Erkenntnisse."
Faktor 4: Sichtbarkeit und Reputation
In Zeiten von Social Media, Preisvergleichen und Online-Bewertungsportalen hängt der wahrgenommene Wert einer Marke stark davon ab, wie präsent und angesehen sie im Netz ist. Deshalb muss bei der Unternehmensbewertung auch die digitale Reputation unter die Lupe genommen werden:
- Über welche Kanäle und in welcher Tonalität wird online über das Business berichtet?
- Wie häufig wird es in sozialen Netzwerken erwähnt, geliked und geteilt?
- Was sagen Kunden-Reviews auf Portalen wie Trustpilot, Google My Business oder Amazon? Wie entwickeln sich die Bewertungen im Zeitverlauf?
- Gibt es ein aktives Social-Media- und Community-Management, das auf Feedback reagiert und negative Kommentare professionell "einfängt"?
Auch Erwähnungen und Links von anderen Websites (Verlage, Blogs, Verbände etc.) sowie Kooperationen mit Influencern tragen erheblich zum "Linkprofil" und damit zur Reputation eines Online-Unternehmens bei. "Wir prüfen sehr genau, welche externen Links auf die Seite verweisen und ob es vielleicht kritische Beiträge oder Spam-Kommentare aus der Vergangenheit gibt", erklärt Christopher Heckel. "Nicht immer ist eine hohe Zahl an Backlinks positiv - wenn sie von zwielichtigen Domains stammen oder über SEO-Tricks generiert wurden, dann stellen sie ein Risiko dar, weil Google die Seite abstrafen könnte."
Faktor 5: Technische Infrastruktur und Prozesse
Nicht zu unterschätzen sind schließlich auch "Unter-der-Haube"-Faktoren wie die technische Plattform des Online-Business, seine operativen Abläufe und die Effizienz interner Prozesse.
- Sitzt das Unternehmen auf veralteter, schwer anpassbarer Software mit unübersichtlichem "Flickenteppich" von Systemen? Das kann die Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit massiv beeinträchtigen.
- Gibt es Schnittstellen-Probleme, Datensilos und aufwendige manuelle Arbeitsschritte, wo eigentlich durchgängige Automatisierung möglich wäre?
- Wie zuverlässig und skalierbar sind Shop-, Payment- und Logistik-Systeme? Kommt es zu Performance-Engpässen oder Ausfällen?
- Wie gut ist das Unternehmen gegen Hacker-Angriffe oder Datenlecks gewappnet?
Auch die Struktur und Dokumentation der Website selbst kann zum Knackpunkt werden, etwa wenn SEO-relevante Bereiche im Content-Management-System schlecht gepflegt sind oder Produkt-URLs chaotisch vergeben wurden. "Wir hatten einmal einen Online-Händler, bei dem sämtliche Kategorie- und Produkt-URLs kryptische Nummern-Codes enthielten - von wegen 'www.shop.de/catID=384/prodID=85616' ", erinnert sich Heckel. "Das ist SEO-technisch eine Katastrophe und hat den Shop ein Vermögen an verlorenen Rankings gekostet. Bei der technischen Due Diligence muss man solche Schwachstellen und Altlasten unbedingt aufdecken."
Fazit
Die Bewertung eines Online-Business erfordert neben der Analyse "harter" Finanzkennzahlen auch einen Blick auf zahlreiche "weiche" Faktoren, die auf den ersten Blick nicht immer sichtbar sind. Von der Qualität des Traffics über Kundenstruktur und Profitabilität bis zur Marktpositionierung, Reputation und technischen Basis - ein E-Commerce-Unternehmen ist ein vielschichtiges Gebilde mit diversen "Stellschrauben", die seinen Marktwert maßgeblich beeinflussen.
Um belastbare Aussagen zu Attraktivität, Risikoprofil und Potenzial eines Online-Business zu treffen, ist eine ganzheitliche Sicht nötig, die klassisch-betriebswirtschaftliche Analysen mit Erkenntnissen aus Datenauswertung, Nutzertests und technischer Prüfung kombiniert. Das erfordert Zeit, interdisziplinäres Know-how und Erfahrung.
Das Investment lohnt sich aber in jedem Fall - denn am Ende entscheidet die Solidität des Bewertungsprozesses darüber, ob man sein Online-Unternehmen zu einem fairen, dem tatsächlichen Marktwert entsprechenden Preis verkauft. Oder ob man als Käufer die Katze im Sack erwirbt.
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Christopher Heckel
Co-Founder & CTO
Christopher hat als CTO des Mittelstandsfinanziers Creditshelf die digitale Transformation von Finanzlösungen für den Mittelstand geleitet. Viaductus wurde mit dem Ziel gegründet, mit Technologie für Unternehmensübernahmen und -verkäufe Menschen zu unterstützen, ihre finanziellen Ziele zu erreichen.
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